Ich mag meinen Job. Vor allem, weil er so abwechslungsreich ist. Man spricht zwar immer über gleiche und ähnliche Herausforderungen, muss diese aber in jedem Projekt anders angehen oder teilweise gar komplett neu denken, da sich die Märkte und Anforderungen komplett unterscheiden. Gewisse Themen kommen aber bei eigentlich allen Kunden unabhängig von Rahmenbedingungen und Branche zum Vorschein. Besonders bei Neukunden betrifft es immer die Diskussion über die Kosten/Scope am Anfang eines Projektes.
In der Vergangenheit traf man hier häufig auf Einkäufer, die besonders viel im Initialprojekt unterbringen wollen (mit dem fehlgeleiteten Gedanken, besonders „günstig“ einzukaufen) oder auf endlos lange Feature-Listen, die möglichst alle erdenklichen Funktionalitäten und Wünsche abbilden sollten. Dass dies keiner sinnvollen und agilen Herangehensweise in Web-Projekten entspricht, muss an dieser Stelle nicht erwähnt werden.
In letzter Zeit hat hier eine interessante Entwicklung stattgefunden. Wir treffen auf viele Projektverantwortliche, die uns stolz erzählen, dass sie bereits umfangreich die Feature-Liste eingedampft haben, um einen schnellen Go-Live-Termin zu ermöglichen und genau die oben genannten Fehler vermeiden wollen. Leider sind wir hier jedoch meist komplett anderer Meinung. 😉
Weniger ist mehr
Konsequent wäre unserer Meinung nach eine Planung nach dem „MVP-Ansatz“. Als „MVP“ versteht man das „Minimum Viable Product“, den kleinstmöglichen Projektscope, der eine funktionale Nutzung des Produktes ermöglicht. Bei einem E-Commerce Projekt, das von Null startet, bräuchten wir hier: ein kleines Set an Produktdaten, eine Produktliste, eine Produktdetaildarstellung, einen Warenkorb und eine Bestellfunktion, die dem User gängige Verfahren anbietet. Komplexität haben wir hier im Bereich der Produktdaten, da wir im Regelfall mit anderen Systemen kommunizieren müssen und ggf. noch bei der Bestellfunktion, da hier ebenfalls Kommunikation mit Zahlungsanbietern und ERP-Systemen stattfinden muss. Alle anderen Funktionalitäten können im Regelfall und bei Rückgriff auf Lösungen wie Magento mit Standard-Funktionen abgebildet werden und bedürfen überschaubarer Konfiguration, ein wenig Customizing und Styling. Responsive Design ist ein weiterer Komplexitätsfaktor aufgrund des großen Interpretationsspielraums vorhanden ist, jedoch möchte ich auf diesen Aspekt im vorliegenden Beitrag nicht eingehen, da dies nochmal ein komplett eigenes Thema ist. 😉
Frühzeitig Umsätze und Erfahrungswerte einsammeln
Doch da haben wir den Knackpunkt: Egal ob Launch einer komplett neuen Applikation oder Relaunch (der häufigere Fall), Entscheider haben vor allem folgenden Gedanken im Kopf: „Wenn schon ein neuer Shop erstellt wird, dann soll man das auch direkt in voller Pracht sehen“. Und die Werbekampagne nach dem Launch soll sich ja auch lohnen. Designagenturen können also an dieser Stelle ihr ganzes Können zeigen. Doch das heißt meistens nicht nur ein sinnvolles UX Design, sondern auch: viele neue Features, Cross-Selling, Up-Selling, Personalisierung im Login-Bereich, Usability-Optimierungen, eine große Anzahl an Produktattributen, Layout-Spielereien. Zweifelsohne alles Dinge, die ein moderner und zeitgemäßer Online Shop IN JEDEM FALL braucht. Nur warum sollte die Implementierung dieser Dinge (und meist geht es ja noch um viel mehr) uns davon abhalten, ein funktionsfähiges Produkt, das im Regelfall ja eine deutliche Verbesserung zum Status Quo darstellt, frühzeitig live zu stellen und hier bereits fleißig Erfahrungswerte und vor allen Dingen mehr Umsätze einzusammeln. Die Komplexität des Projektes wird so ebenfalls reduziert, was eine leichtere Projektplanung für alle Beteiligten ermöglicht.
Diese Denkweise, so bekannt sie in der Webentwicklung ist, ist für viele E-Commerce-Verantwortliche auf Händler- und Herstellerseite, ob B2B oder B2C, immer noch zu radikal und nun geht die gleiche Diskussion wie zuvor los: „Aber das und das MUSS ja noch drin sein, sonst können wir nicht live gehen“… „Die Kunden erwarten das“ (sehr beliebt bei B2B Kunden).
Der Erfolg bestätigt die Theorie
Bei den wenigen Projekten, bei denen wir den MVP-Ansatz wirklich nahe an unsere Vorstellungen ran führen konnten, haben wir durchweg positive Ergebnisse erzielt. Bereits mit dem sehr überschaubaren Feature-Set wurden bessere Umsätze als zuvor erzielt und man sah recht schnell, welche Funktionalitäten die Kunden WIRKLICH wünschten und konnte die weitere Projektplanung konsequent darauf ausrichten und somit Konversionsraten und Umsätze sukzessiv erhöhen. Durch eine kurze Time-to-Market und geringere initiale Kosten war es möglich, das Marketing-Budget stärker zu fokussieren und auch hier eine höhere Performance zu erzielen.
So ist es durchaus als positiv anzusehen, dass auch auf Kundenseite nach und nach eine zielorientierte Denkweise vorhanden ist. Wir plädieren jedoch für eine noch konsequentere und radikalere Denkweise in der Projektplanung. Der Scope eines Projektes sollte immer möglichst gering gehalten und nachfolgende Projekte sehr agil mit konsequenter Priorisierung auf Business Values geplant und umgesetzt werden. Anforderungen, die heute definiert werden und in 6 Monaten live gehen sollen, sind in der heutigen Zeit nicht selten längst überholt, wenn es zum Livegang kommt. „MVP-Denken“ muss also in die Köpfe der Entscheider, um mit der agilen und erfolgreichen Denkweise der E-Commerce-Welt „Category Leaders“ wie Zalando im Jahr 2016 zurecht zu kommen.
(Bildquellen: Jiri Hera/Shutterstock, Boonhuay1970/Shutterstock)
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