Auf dem E-Commerce Forum Karlsruhe XXL am 9. November 2017 machte Alain Veuve von AOE den Auftakt in das Programm mit seinem Vortrag über das „Agile Unternehmen“ und sprach unter anderem von MaaS (Management as a Service). Diesem Prinzip zufolge sollte das Management als ein Dienst bei Bedarf verstanden werden, auf den die in Teams organisierten Mitarbeiter zurückgreifen können, wenn diese Unterstützung oder Hilfe benötigen. Dieses Prinzip ist jedoch keineswegs neu, sondern bestand in übertragener Form schon über einen Zeitraum von zwei Millionen Jahren menschlicher Evolutionsgeschichte und könnte damit eine entscheidende Verbesserung sowohl für die Organisation im Unternehmen, als auch die Zufriedenheit der einzelnen Mitarbeiter aus kulturanthropologischer Sicht sein.
Die exponentielle Entwicklung
Wir haben es bereits des Öfteren gehört: Die technische Entwicklung verläuft nicht linear, sondern exponentiell. Das heißt, die Zyklen, in denen neue Technologien entstehen, werden immer kürzer. Oder anders gesagt, die Geschwindigkeit steigt rasant an! Als einer der Ersten hatte sich Ray Kurzweil, Director of Engineering bei Google, mit diesem Phänomen beschäftigt, indem er die Technologiezyklen in der Menschheitsgeschichte vom Faustkeil bis zu den heutigen Technologien analysierte. Und die meisten Experten sind sich hier einig, dass die nächsten 10 Jahre die Unternehmen und Gesellschaften mehr verändern könnten, als die gesamte Zeit davor.
Uns stehen demnach grundlegende Veränderungen bevor, die niemand abzuschätzen vermag und die zur größten Herausforderung insbesondere für eingesessene und traditionelle Unternehmen werden. Schnelligkeit wird zur wichtigsten Eigenschaft werden. „Fast is the new Big.“ wie Veuve auf dem Forum postulierte. Es sei am besten, wenn man sowohl groß als auch schnell ist, aber wenn mehr nur eine Eigenschaft verkörpern kann, dann ist schnell eindeutig die wichtigere und entscheidendere!
Das Agile Unternehmen schafft eine „natürlichere“ Umgebung
Schnell sein! Agil sein! Das sind die Tugenden, mit denen Unternehmen diesem rasanten Wandel begegnen müssen. Und daher sieht Veuve das Agile Unternehmen aufgrund von ultra-flachen Hierarchien, direkter und offener Kommunikation sowie kurzen Entscheidungswegen als die geeignetste Form der Unternehmensorganisation. Als er daraufhin das Prinzip des Management as a Service erklärte, gingen bei mir die Alarmglocken an und ich habe mich direkt an ein Buch erinnert, das ich vor kurzem gelesen hatte, das erst einmal rein gar nichts mit Agilität oder gar Digitalisierung zu tun hat: „Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät.“ (Ich kann eine Lektüre nur empfehlen!)
Paradise Lost! Die menschliche Natur hält wenig von Hierarchien
In dieser wissenschaftlichen Abhandlung von Historiker Kai Michel und Anthropologe Carel van Schaik geht es um die Deutung der Bibel aus kulturanthropologisch-historischer Perspektive, bei der der biblische Sündenfall (Vertreibung aus dem Paradies) als Metapher für die Sesshaftwerdung der Menschheit vor rund 12.000 Jahren als bisher größtem kulturellem Quantensprung im Zentrum der Analyse steht. Eine grundlegende These des Buches ist, dass die kulturelle Evolution viel schneller stattfindet als die biologische Evolution und dadurch sogenannte Mismatch-Phänomene, Fehlangepasstheiten, beim Menschen hervorgerufen werden.
Das sehen wir physiologisch beispielsweise bei der Ernährung und dem Problem des zunehmenden Bauchumfangs, weil wir uns nicht mehr derart bewegen müssen, aber insbesondere auch in der Psyche und im Bereich des menschlichen Sozialverhaltens. Diese Mismatches werden meist als individuelle Defizite wahrgenommen, nicht aber als Folge der Kluft zwischen biologischer und kultureller Evolution, was aber eigentlich zutreffen würde! Die Konsequenz daraus sei ein latentes Unbehagen in der Kultur und das unterschwellige Gefühl, dass man in einer verkehrten Welt leben würde. Wenn Goethes Faust davon spricht, dass ihn zwei Seelen in seiner Brust quälen, dann ist es genau dieses Phänomen, das Goethe dabei thematisiert.
Biologische und kulturelle Kluft – wir sind immer noch Jäger und Sammler
Bei der Evolution des Menschen sprechen wir von einem Zeitraum von ca. zwei Millionen Jahren als Jäger und Sammler. Verglichen zu den 12.000 Jahren der Sesshaftigkeit und sich daraus entwickelnder Kultur ist das, unschwer zu sehen, der immens größere Teil. Das heißt, eigentlich sind wir aus biologischer Sicht nicht für diese Kulturform gemacht, sondern im Inneren noch die Jäger und Sammler von vor 12.000 Jahren! Und die hatten davor eine völlig andere soziale Lebensweise wie van Schaik und Michel erklären:
„Die Jäger und Sammler lebten zu mehreren Familien in kleinen Gruppen, die aus dreißig bis fünfzig Mitgliedern bestanden und nicht fest an einem Ort lebten. […] Der materielle Besitz war klein, allenfalls individuelle Fähigkeiten oder markante Persönlichkeitszüge sorgten für Rangunterschiede. Ausgeprägte Hierarchien existierten genauso wenig wie bedeutende Machtkonzentrationen. Man teilte die Ressourcen, insbesondere die Jagdbeute. Freigiebig zu sein steigerte die Reputation der Jäger. Das Leben der Menschheit spielte sich die längste Zeit weitgehend egalitär und demokratisch ab. Das hat sich tief in unsere Psyche eingebrannt und bestimmt die Wahrnehmung und Interpretation unserer sozialen Umwelt bis heute.“
Die Organisation des sozialen Lebens in der Jäger-Sammler-Zeit erinnert im übertragenen Sinne stark an die Merkmale agiler Unternehmensstruktur: Kleine Gruppen, keine Hierarchien, teilen der Ressourcen, demokratische Prozesse. Die agile Unternehmensorganisation entspricht damit der menschlichen Natur, die sich eben aus biologischer Sicht noch nicht derart schnell weiterentwickeln konnte, am meisten!
https://vimeo.com/245151776/0a97f8a01b
An einer anderen Stelle im Buch findet sich dann eine Analogie zum MaaS. Dort heißt es:
„Jäger und Sammler kannten keine Führer. Nur in Konfliktfällen mit anderen Gruppen setzten sie einen Kriegsführer ein, der aber in Friedenszeiten seine Herrschaft wieder niederlegte.“
Wenn wir einmal von dem Ausdruck „Kriegsführer“ für den konkreten Fall absehen, dann entspricht der Grundgedanke des MaaS‘ genau dieser ursprünglichen Führungskultur. Das „Team/Gruppe“ wendet sich bei Bedarf an den „Anführer/Manager“, der sich nach der Lösung des Konflikts wieder zurücknimmt. Diese Strukturen haben die menschliche Psyche, wie gezeigt, zwei Millionen Jahre geprägt und sie kommt damit nicht nur besser zurecht, als mit festen und unveränderlichen hierarchischen Strukturen, die sie „erst“ seit 12.000 Jahren aufgezwungen bekommt. Sondern es ist auch wahrscheinlicher, dass sie dadurch deutlich mehr Zufriedenheit findet, weil dem angesprochenen kulturellen Unbehagen etwas entgegen gewirkt werden könnte.
Fazit
Die kulturelle und technische Entwicklung wird weiterhin unaufhaltsam die Geschwindigkeit erhöhen und die Verbraucher interessieren sich nicht wirklich dafür, ob Unternehmen mit Problemen zu kämpfen haben und von der Bildfläche verschwinden. „No one cares!“ (Gary Veynerchuk). Besser angepasste Unternehmen werden an deren Stelle treten. Um zu bestehen, wird es mehr denn je auf fähige und mündige Mitarbeiter ankommen und insbesondere darauf, zu innovieren und diese Innovationen schnell umsetzen zu können. Aber dafür muss die passende Umgebung geschaffen werden und insofern sehe auch ich das Agile Unternehmen als die „natürlichste“ Unternehmensform an, weil sie die Bedürfnisse der menschlichen Natur am besten bedienen und damit neue Ressourcen freisetzen kann.
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